Leerer Stuhl in einem leerem Raum

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Verlusterfahrungen gehören zum Menschsein. Gegenwärtig werden sie jedoch stärker aufgegriffen. Selbst habe ich bereits 2021 geprüft, inwiefern die Veränderung des Beziehungscharakters durch eine virtuelle Führung Verlusterfahrungen provoziert. Das Große und Ganze im Blick hingegen habend, hat Andreas Reckwitz, Professor für Allgemeine Soziologe und Kultursoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, im letzten Jahr nun ein umfangreiches, tiefgründiges und passenderweise soziologisch orientiertes Werk mit dem Titel „Verlust. Ein Grundproblem der Moderne“ veröffentlicht. Dieses nicht leicht zu konsumierende Werk wurde in Rezensionen vorwiegend freundlich aufgenommen, allerdings nicht ohne substanzielle Kritik an der Argumentation auszusparen. Spannend ist die aufgekommene Verlustfrage für eine kulturell-historisch informierte Gesellschaftsdiagnose allemal und für Führungskräfte als Hintergrundwissen relevant. Lebenszufriedenheit und Arbeitszufriedenheit korrelieren empirisch immerhin positiv moderat miteinander. Abgesehen davon sind Führungskräfte Gesellschaftsmitglieder und selbst betroffen von gesellschaftlichen Lagen.

Beabsichtigt ist, „eine nüchterne Analyse der modernen Gesellschaft unter dem Aspekt vorzunehmen, in welcher Relation sie sich zu Verlusterfahrungen befindet“ (Seite 14 f.). Damit soll Aufmerksamkeit für ein Phänomen erreicht werden, dass sich, so die These, zu Unrecht ebensolcher lange Zeit entzogen habe, wiewohl es immer schon kluge Köpfe gegeben hätte, die bereits einiges dazu zu sagen wussten. Neben diesem Aufmerksamkeitsschub geht es ihm vor allem darum, die gegenwärtige Verfasstheit unserer Gesellschaft besser zu verstehen.

Verlusterfahrungen – Ausgangspunkt

Um einen Beitrag zur soziologischen Gesellschaftstheorie mittels eine Theorie der Moderne zu leisten, benötigt man ein gedanklichen Ausgangspunkt, um sich nicht zu verzetteln. Diesen findet Reckwitz im Verlustbegriff, der sich für uns im Alltag als eine Verlusterfahrung zeigt. Diese Erfahrung kann lediglich rational konstatiert oder intensiv emotional erlebt werden. Neben der individuellen Erfahrung, beispielsweise des Verlustes von Akzeptanz, Prestige, Tempo oder Zeit, können Verlusterfahrungen auch kollektiv wahrgenommen werden, wie es beispielsweise Kaufkraftverluste des Geldes oder Einflussverluste politischer Mandatsträger darstellen würde. Wir erkennen durch meine Beispiele sofort, dass damit Verlusterfahrungen subjektiv, ggf. sogar unbemerkt von anderen, auftreten können – nehmen wir dafür den Stimmungsverlust oder den Realitätsverlust – oder sich selbst objektiv (sichtbar, zählbar) manifestieren. Denken wir an einen Umsatzverlust. Vieles liegt aber auch zwischen diesen Bereichen im Intersubjektiven, d.h. mindestens zwei Personen versichern sich derselben Erfahrung (z. B. zwei Teammitglieder hinsichtlich des Autoritätsverlustes des Vorgesetzten).

Die Moderne huldigt dem Fortschrittsnarrativ und blendet Verlusterfahrungen aus

Reckwitz argumentiert im Wesentlichen, dass das seit der Aufklärung in den westlichen Gesellschaften (westliche Moderne) vorherrschende Fortschrittsnarrativ mit den Stichworten Wissenschaft, Technologie und Technik, Wohlstand, Demokratisierung Verluste systematisch ausblende, mindestens aber unterbelichte. Denken wir hier nun an Max Weber, der die Entzauberung der Welt als einen Prozess beschrieb, durch den mythische und religiöse Erklärungen für die Welt zunehmend durch rationale und wissenschaftliche Denkweisen ersetzt werden. Dies hat zwar die Grundlage für technologische und gesellschaftliche Fortschritte geschaffen, gleichzeitig aber auch zur Erfahrung von Sinnverlust und existenzieller Unsicherheit geführt, da traditionelle Werte und Orientierungssysteme zunehmend hinterfragt werden.

Nun stelle sich aber heraus (S. 24), „dass das Fortschrittsversprechen in der Spätmoderne an Glaubwürdigkeit [eingebüßt habe] , sodass die Verlusterfahrungen ihr geschichtsphilosophischer Schutzschild [abhandengekommen sei] “. Damit treten sie uns vielfältiger und merkbarer gegenüber, wandern sogleich vom Rand ins Zentrum. Sie werden zu einem Problem und „entdecken“ sich, wie ich übersetzen würde, quasi gegenseitig, denn ist der Blick einmal für Verluste geschärft, werden sie auch eher gesehen. Bedenke hier: Es existieren auch sachlogische Verbindungen zwischen einzelnen Verlusterfahrungen. Nehmen wir die Verlusterfahrung an außenpolitischer Sicherheit. Dadurch werden individuell/kollektiv materielle wie immaterielle Ressourcen zur Abmilderung gebunden, die eine Verbesserung des Wohlstandes ceteris paribus verhindern, was wiederum zu Ängsten des Verlustes von Einkommen und Status führen kann. Unter Begrifflichkeiten wie beispielsweise Resilienz oder Populismus werden Folgen dieser Entwicklung gegenwärtig problematisiert. Diese neue Sichtbarkeit führe dazu, dass die Individuen, also wir, nun für diese Verlusterfahrungen größere Sensibilitäten ausbildeten – sie werden somit bedeutsamer. Als Antworten finden sich inzwischen diverse Formen einer individuellen oder kollektiven Verlustbearbeitung (beispielsweise eine Ethik des Verzichts), die aber gesamthaft bislang nicht so greifen, um die Verluste in den Hintergrund treten zu lassen. Ziel der mannigfaltigen gedanklichen Übung von Reckwitz soll es dann sein, die an dieser Stelle nur angedeuteten Zusammenhänge zu erläutern und die Spätmoderne mit ihrem Entwicklungsnarrativ nach 250 Jahren klug mit Verlusterfahrungen und dem Umgang damit zu verbinden. Wer dies eingehend nachverfolgen möchte, sollte ins Buch schauen.

Verlusterfahrungen – Was am Ende bleibt

Geben wir Reckwitz einmal recht, dass das gesellschaftliche Fortschrittsnarrativ das Strahlende verkündet und herausstellt und das Dunkle gerne beiseiteschiebt. Wird das Dunkle auf einmal salient, weil sich selbst verstärkende Krisen uns bedrohen und wir erkennen, was wir gerade verlieren und demnächst verlieren werden, wird es problematisch. Irgendwann laufen dann Fortschrittsideologien ins Leere und das persönliche Verdrängungssystem muss passen. Dann werden Antworten gesucht – verklärende oder das Problem aufgreifende. Erstere sind einfach hinzubekommen, Letztere nicht, schon gar nicht, wenn der Mut dazu fehlt.

Aber hat Reckwitz recht, hier eine Besonderheit der Spätmoderne zu sehen? Akzeptieren wir den Trick des Zauberers, uns das Kaninchen „Verlusterfahrung“ als einen originären Beitrag zur Theorie der Moderne zu präsentieren? Das ist kompliziert, denn bereits die „Moderne“ steht als sinnvolle gesellschaftliche Beschreibung einer Periode in der Kritik. Wer dem folgt, wird auch die „Spätmoderne“ als sinnvolle Analyseeinheit verwerfen müssen. Es gibt zu viele Theorien der Moderne oder Modernisierungstheorien, um hierauf nun eingehen zu können, denn je nach Wahl ergeben sich vollkommen andere Bilder. Deshalb muss das hier offenbleiben, verbunden mit einer sogleich hier vorsichtshalber deponierten Skepsis.

Machen wir uns lieber bewusst, dass wir stets Verlusten ausgesetzt sind und dies auch in Zukunft sein werden. Verlusterfahrungen gehören zu den universellen Erfahrungen des Menschseins und prägen unsere emotionalen, sozialen und existenziellen Dimensionen tief. Die grundlegendste Erfahrung davon ist, dass wir leben – und dass wir dieses Leben eines Tages verlieren werden. Durch die gegenwärtigen Krisen werden wir unbewusst oder bewusst daran erinnert. Die  seit und mit der Aufklärung vorgenommene Entzauberung der Welt fällt vielen von uns natürlich jetzt in dieser Situation auf die Füße, um es salopp zu sagen.

Natürlich ist in dieser Situation eine gute Führung gefragt, die – und nur darum kann es am Ende gehen – ihrer etymologischen Bestimmung entsprechend klug nach vorne schaut: normativ, strategisch und operativ. Da gibt es keinen Unterschied zwischen Führenden im politischen oder wirtschaftlichen Bereich. Wie immer sind diejenigen, deren Position einen Führungsanspruch verkörpert, als erstes dazu aufgerufen, aber es besteht genug Raum, sich selbst berufen zu fühlen und einen solchen Anspruch einzubringen. Für alle gilt allerdings: Wer sich durch ein In-Bewegung-Setzen führen möchte, ohne dass ihm jemand folgt, geht nur spazieren. Deshalb hilft es, sich zwischendurch einmal umzuschauen!

Reckwitz, A. (2024) Verlust. Ein Grundproblem der Moderne, 3. Aufl., Berlin

Weibler, J. (2021): Digitale Führung. Beziehungsgestaltung zwischen Sinnesarmut und Resonanz. Herausgegeben vom Roman Herzog Institut, München. Kostenfrei solange vorrätig als Buch im DIN-5 Format zu beziehen oder auch als Download abrufbar: https://www.romanherzoginstitut.de/publikationen/detail/digitale-fuehrung.html